Die hereinbrechende Nacht stülpte sich sanft über das Buschland des Massai Mara Reservates in Kenia. Eine Antilope ließ ihren röhrenden Brunftschrei über die Ebene schallen, Heuschrecken stimmten ihre Geigen für das Dämmerkonzert.
Die leisen Geräusche ihrer vorsichtigen Schritte vermischten sich mit den Tönen des Buschlandes. Sie verschmolzen mit der Natur. Sie wurden eins mit ihr. Dieses intensive Gefühl erlebt man nur, wenn man zu Fuß hier unterwegs war. Gefährlich? Na ja, über die Löwen dachte man besser nicht nach. Und außerdem hatte der Ranger ja sein Gewehr dabei.
Durch die beginnende Dunkelheit wurden automatisch ihre Sinne geschärft. Fatalerweise nicht gut genug an diesem Abend.
„Sieh mal, er ist schon durch das Gestrüpp zu sehen.“ Mit aufgeregter und leiser Stimme zeigte Sigrid in die Richtung des Wassers, während sie sich zu Karl umdreht. Und tatsächlich, der dreckige und träge fließende -Mara River- war nun schemenhaft schillernd zwischen den Büschen zu erkennen.
„Pssst, seid ruhig jetzt. Mit eurem Gequatsche macht ihr sie noch auf uns aufmerksam.“ Mit dem Zeigefinger vor den Lippen raunte David knorrig die Mahnung an Sigrid und Karl. David, ein leicht untersetzter Brite, der das halbe Jahrhundert bereits überschritten hatte, gab sich Mühe, ihnen die Welt hier draußen hautnah zu bringen. David lebte seit seiner Kindheit in Kenia. Er kannte sich aus, er war ein erfahrener Ranger.
Nun konnten die Drei sogar das Prusten der Nilpferde hören. Nur noch die Böschung und ein paar niedrige Bäume trennten sie vom Fluss.
Karl Obermaier suchte für seine geliebte Frau lange nach einem außergewöhnlichen Geschenk zu ihrem 20-jährigen Hochzeitsjubiläum und da kam ihm die Idee mit diesem »Buschwalk«. Ihr war es ja zu gefährlich, doch sie wollte Karl nicht enttäuschen und hat sich überreden lassen.
Aus der Ferne ließ eine Hyäne ihr unvergleichliches Gekreische vernehmen. HUUUU – UUP. Erst in langem, tiefen Ton und dann übergehend in den hohen, kurzen und abrupten Abschluss. Magie lag in der Luft.
Es half nichts. Karl ignorierte die Warnung des Rangers. Er musste einfach aus ihm raus, er war gefangen in dieser Magie. Leise tuschelnd:
„Sigrid riechst du das?“
“Ohhh ja, Liebling. Und so intensiv!“
Nach dem Regen war die Luft geschwängert vom Geruch des nassen und dürren Grases. Dieser herbfrische Heuduft wirkte wie eine Droge und wie Süchtige zogen sie diesen Zauberduft in ihre Nasen. Wie wunderbar das Leben doch war.
Ein Wirbelsturm der Sinne entfachte seine ungeheure Kraft und stürzte sich begierig auf ihre Seelen. Es war nicht alleine dieses exotische Gebräu aus den unvergleichlichen Gerüchen und Tönen. Es war auch nicht alleine dieses atemberaubende Panorama der afrikanischen Wildnis, die sich gerade umzog und das Kleid der Nacht überstreifte. Nein, es war die Verschmelzung all dieser Eindrücke mit ihrer tiefen Liebe. Sie wurden entführt in eine fremde, in eine wunderbare Welt. Sogar körperlich konnten sie es fühlen. Der Rausch der Glückseligkeit machte sich prickelnd mit einer Gänsehaut auf ihren Körpern bemerkbar.
„Danke mein Liebster“, hauchte sie ihm ins Ohr. Sogar einen flüchtigen Kuss gab es zur Belohnung. Sigrid und Karl waren in diesem Augenblick die glücklichsten Menschen der Erde.
In einer halben Stunde wollten sie im Camp zurück sein. Ein Abendessen unter dem klaren Sternenhimmel des wilden, afrikanischen Buschlandes wurde gerade für sie vorbereitet. Eine weitere Überraschung, die Karl für seine Frau inszeniert hatte. Kein noch so krankes Gehirn konnte imstande sein, sich den Albtraum ausdenken, der in wenigen Augenblicken über sie kam.
Sie kamen immer näher an das Wasser. Alle drei konzentrierten sich nun auf die Nilpferde, die jetzt unmittelbare vor ihnen waren. Der Ranger zeigte zum Fluss.
„Seht ihr, sie haben uns noch nicht bemerkt.“
„David. Sind wir nicht schon zu nah?“ Der Zauber in Sigrids Herzen verabschiedete sich leise und machte Platz für ein Gefühl der Beklommenheit.
„Nein, nein, keine Sorge. Sie werden nicht angreifen.“
„Und was ist mit den Krokodilen?“
„Die befinden sich um diese Zeit doch alle im Wasser. Mit etwas Glück sehen wir sogar einige von den Burschen, bevor es zu dunkel wird.“ Der Ranger wirkte leicht genervt von Sigrids ängstlichen Gehabe. Nur die Aussicht auf ein fettes Trinkgeld hielt seine Freundlichkeit in Schach. Er dachte an seine Geliebte, die in der Lodge auf ihn wartete: eine halbvolle Flasche Scotch, die sich nach seiner Umarmung sehnte.
Warum erkannte er nicht, dass die Gefahr von ganz woanders kam? Oh nein. Die Gefahr kam nicht vom Wasser. Sie kam von einem Tier, das schon zu Zeiten der Dinosaurier die Erde bevölkerte. Von einem Tier, das Göttin Evolution in sechzig Millionen Jahren zu einer perfekten Killermaschine geformt hatte. Was lange währt, wird endlich gut.
Der armdicke Ast ragte auf Kopfhöhe quer über den schmalen Trampelpfad, auf den sie nun parallel zum Flussufer liefen. Sie mussten sich bücken, um darunter durchzukommen. David als Erster. Sogar gewarnt hatte er noch.
„Aufpassen, zieht eure Köpfe ein.“ Das Gewehr hing am Trageriemen über seiner Schulter und er blieb mit dem Gewehrkolben am Ast hängen. Im Gedanken bei seiner „Geliebten“, hatte er nicht die nötige Konzentration. Oder hatte er einfach zu viele Buschwalks gemacht und wurde nachlässig? Egal. Wie auch immer. Er hatte sie einfach übersehen! Wegen der um sich greifenden Dämmerung war sie aber auch wirklich schwer zu erkennen. Ihre Tarnung war perfekt. Sie lag in Windungen auf dem Ast, wurde fast eins mit ihm in der Dunkelheit. Und nun fühlte sich angegriffen.
Die schwarze Mamba ist die tödlichste aller Giftschlangen. Ein einziger Biss enthält bereits genug Gift um zwanzig Menschen zu töten. Sie ist von Natur aus nervös und wenn sie sich bedroht sieht, greift sie an – und zwar äußerst aggressiv und schnell.
Nun kam Sigrid zu dem Ast. Sie bückte sich gerade, um darunter durchzuschlüpfen, da passierte es.
Erst dachte sie, ihr Mann wollte sie herzen und vor Glück umarmen. Wie unsinnig, gerade hier, unter diesem Ast. Sie spürte seine Arme. Wie kräftig sie auf einmal wirkten. Allerdings waren diese Arme plötzlich überall an ihrem Körper. Da registrierte sie mit Horror, dass eine Schlange auf sie gefallen war. Die schwarze Mamba war etwa drei Meter lang. Sie fühlte sich kalt an. Und nach weichem Leder. Das elastische und zähe Muskelfleisch des schmalen, etwa unterarmdicken Schlangenkörpers bewegte sich schnell und tödlich über ihren gebückten Rücken. Karl hatte es mit Grauen gesehen. Aber es war zu spät. Er konnte nichts dagegen tun. Die Schlange suchte sich Blitzschnell die Stelle aus, an der sie zuschlagen würde. Dieses hässliche, grausame Zischen als Zeichen des Angriffs wird er bis zu seinem Lebensende nicht vergessen.
Dann biss sie zu. Mehrmals. So wie es eine Mamba üblicherweise tut. Zuerst der Biss in das zarte Fleisch von Sigrids linker Wange und sofort danach in den Hals und dann nochmals in ihr Gesicht. Diesmal genau unter ihrem Auge. Sigrid konnte fühlen, wie einer der beiden Giftzähne mit starker Wucht auf ihr Jochbein aufschlug und dann am Knochen vorbei in Richtung Auge vorbeikratzte, um nur noch tiefer in sie einzudringen. Oh Gott, was für eine animalische Energie. Sie wunderte sich noch, warum der Giftzahn nicht abbrach. Welche sonderbaren Gedanken einem im Augenblick des Todes doch durch den Kopf gehen können. Das Giftgemisch, das die Schlange aus diesem Zahn presste – die Menge würde ein Schnapsglas füllen – drückt heftig von innen gegen ihr Auge und quetschte es schmerzhaft nach außen. Für einen kurzen Augenblick verhakte sich der Schlangenzahn an ihren Jochbein-Knochen, bevor die schwarze Mamba ihr Mordwerkzeug mit einem kräftigen Ruck zurückzog. Das Werk war vollbracht. Die Schlange glitt auf den Boden und verschwand blitzschnell im Buschwerk. Der Angriff dauerte keine zwei Sekunden.
Der markerschütternde Schrei von Sigrid ließ ihr entsetzliches Leid erahnen. Ihre Hände flogen schützend hoch an ihr Gesicht. Viel zu spät. Dann sank sie in sich zusammen. Das Licht der Taschenlampe bestätigte die Tragödie. Das Blut auf ihrem Gesicht und Hals lief in dünnen Fäden aus den kleinen, klaffenden Löchern.
„Mayday, Mayday. Schlangenbiss am Mara Fluss. Ihr müsst sofort mit dem Antiserum kommen. SOFORT! Es geht um Minuten.“
David hatte hastig die Worte ins Funkgerät gerufen. Er sah die Schlange für einen Augenblick. Er wusste, welche Schlange es war. Er wusste, was passieren wird. Er hoffte auf das Unmögliche.
Sigrid war unter Schock. Natürlich. Ihre weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen und Verzweiflung. Das linke Auge inzwischen blutrot von der Quetschung. Kleine Mengen des eitergelben Giftes quollen zwischen Augapfel und Augenlied nach außen. Ein unmenschlicher Anblick. Sigrids wunderschönes Gesicht war verstümmelt zu einer Fratze des Grauens. Innerhalb einer Sekunde veränderte sich das Paradies zur Hölle.
„Oh nein … es tut … schrecklich weh … HILF MIR!“ Abgehackt zwischen ihren Atemstößen, die hart aus ihr herauspressten, stöhnte sie die Worte anklagend gegen Karl.
Sie betteten Sigrid so gut es eben ging auf den schmalen Pfad.
„Kann die Schlange zurückkommen und erneut angreifen?“ Karl mochte sich den Gedanken daran nicht ausmalen.
„Nein, das wird sie nicht. Eigentlich ist die Mamba ein feiges Tier. Sie greift nur an, wenn sie keinen anderen Ausweg sieht.“
Sigrid bäumte sich unter Stöhnen grotesk auf. Die Schmerzen waren ihr anzusehen.
Verdammt, das geht so schnell, dachte sich der Ranger. Sigrid spürte, wie eine äußerst schmerzende Verkrampfung schleichend und unaufhaltsam die Kontrolle ihrer Muskeln übernahm. Schaum trat aus Mund und Nase. Ihr Körper begann zu zucken. David drehte Karl auf die Seite, weg von Sigrid. Flüsternd, so, dass sie es nicht hören konnte.
„Wir haben nur noch wenige Minuten. Lass uns beten, dass das Antiserum rechtzeitig kommt.“
Da die Mamba jedoch ihre Fänge in Sigrids Gesicht und Hals geschlagen hatte, wirkte das Gift schnell. Viel zu schnell.
„AHHH, mein Herz, es brennt entsetzlich, ich kann es nicht mehr ertragen.“ Karl kniete neben ihr, Tränen in seinen hilflosen Augen. Was soll ich tun? Was kann ich tun?
Sie schmiss sich zuckend zur Seite und musste sich laut würgend erbrechen.
„Halte durch, mein Liebling. Rettung ist gleich da.“ Doch sie wusste es besser. Sie konnte ihn fühlen, den eiskalten Klammergriff des Todes. Das Atmen wurde zu einer Höllenqual. Nur noch ein schmerzhaftes Röcheln. Unerträgliche Krämpfe durchzuckten sie, so als ob starke Stromstöße durch ihren Körper gejagt würden. Kalter Schweiß. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung zog sie ihren geliebten Ehemann zu sich herunter.
„Ich liebe dich“ waren ihre letzten Worte.