Als Russland seine Raketen mit den nuklearen Sprengköpfen nach Westen ausrichtete, brachten die Müllers gerade ihre Zwillinge ins Bett. Während sie sich eine lustige Kissenschlacht lieferten, wurde in den russischen Kasernen der Befehl zum Ausrücken gegeben.
*
Dieter Müller ging nach unten ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
»Komm schnell, Liebling«, rief er. »Eine Sondersendung.«
»Schlaft schön, meine Süßen.« Elisabeth gab ihren Zwillingen einen Gutenachtkuss, stieg die Treppe hinab und setzte sich neben ihrem Mann. Wie gebannt starrte sie auf den Bildschirm.
Ein Reporter, immer wieder ängstlich über seinen Rücken schauend, berichtete von dem Aufmarsch der Russen.
»Hier herrscht Kriegsstimmung«, sagte der Journalist. »Wie Sie hinter mir sehen können, bewegt sich ein nicht enden wollender Strom militärischer Fahrzeuge Richtung Westen. Die Grenze zur Ukraine ist nicht weit weg.«
Plötzlich waren Schüsse zu hören. Die Aufnahmen waren nun stark verwackelt. Ein lebloser Körper mit blutendem Kopf war für einen kurzen Moment zu erkennen. Der Kameramann rannte anscheinend mit der laufenden Kamera in Sicherheit. Dann war die Reportage zu Ende. Die Studiosprecherin übernahm das Wort.
»Meine Damen und Herren, diese Reportage wurde vor wenigen Stunden von unseren beiden Mitarbeitern in Wolgograd gemacht. Nachdem sie uns die Bilder übermittelt hatten, brach jeder Kontakt zu ihnen ab.«
Fassungslos schaltete Elisabeth nach dem Bericht den Fernseher aus. Mit zittrigen Händen legte sie die Fernbedienung auf den Tisch.
»Sag mir, dass ich gerade einen Albtraum erlebe.« Tränen standen in ihren Augen.
»Keine Sorge, Elisabeth«, antwortete Dieter. «Die Russen werden nicht so bescheuert sein, einen ernsthaften Konflikt mit der NATO zu riskieren. Was wir da gerade gehört haben, ist bestimmt eine Falschmeldung.«
»Eine Falschmeldung in einem öffentlich-rechtlichen Sender? Ich hoffe nur, dass du recht hast.«
*
Der 65-jährige James Collister, politischer Berater, saß in seinem feudalen Haus in Washington DC am wuchtigen Mahagonischreibtisch und rieb sich zufrieden die Hände. George, sein einziger Sohn und Nachfolger, kam ins Büro geeilt.
»Der Konflikt droht zu eskalieren!«, rief George aufgeregt.
»Gut so.«
»Aber …«
»Kein aber. Es läuft alles nach Plan. Ich weiß, was ich tue.«
»Aber sie drohen mit atomaren Waffen.«
James Collister hieb mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Verdammt! Verlier jetzt nicht die Nerven. Es ist irrelevant, mit welchen Waffen sie drohen. Es geht nur um die Drohung an sich, um Einschüchterung. Das ist alles.«
»Woher willst du das wissen?«
Collister schüttelte ungläubig den Kopf. »Hast du denn noch gar nichts gelernt? Du kennst doch das Spiel. Ich bin ein Puppenspieler und ziehe an den Strippen, um die Marionetten zu lenken. Ich habe die Kontrolle, ich habe die Macht.«
»Es ist nur …«
»Was?«
»Die nukleare Bedrohung macht mich nervös.«
»Stellst du etwa meine Kompetenz infrage?«
»Natürlich nicht, Vater.«
»Was für einen Job mache ich?«
George verdrehte die Augen.
»Antworte mir gefälligst«, forderte Collister energisch.
»Du bist Waffenlobbyist.«
»Genau. Und du bist mein Nachfolger. Wir sind legalisierte Schmiergeldzahler. Wir bestechen, erpressen und bescheißen. Wir stopfen die Taschen der Politiker voller Geld, dadurch haben wir Macht über sie. Als Lobbyisten kontrollieren wir die Geschicke der Welt, George. Nicht die korrupten Politiker, nicht der Sklave, den sie NATO nennen, nicht das Volk. Die Politiker und Generale sind meine Marionetten und sie machen genau das, was ich von ihnen verlangt.« »Aber die Kommunisten sind dir schon einmal in die Quere gekommen.«
James Collister fixierte seinen Sohn aus zusammengekniffenen Augen.
»Ein Einziger, George. Nur ein Einziger. Es war nicht abzusehen, dass er unbestechlich war.«
»Hoffentlich wiederholt sich das nie wieder.«
»Keine Sorge. So einen wie Michail Gorbatschow gibt es kein zweites Mal. Dieser Scheißkerl wollte den Kalten Krieg durch Abrüstung beenden. Aber er riss mir die Strippen zu den Marionetten nur kurzfristig aus der Hand.« Collister lächelte, als er an die turbulente Zeit dachte. Ein Putschversuch war nötig, um Gorbatschow von der politischen Bühne zu fegen.
»Doch es kostete dich ein Vermögen an Bestechungsgeldern, die EU-Staaten und ehemaligen Ostblockstaaten zu manipulieren.«
»Gut investiertes Geld. Die EU expandiert schön brav nach Osten. Ehemalige Sowjet-Staaten werden in die NATO aufgenommen. Wir verkaufen inzwischen so viele Waffen wie nie zuvor.«
»Eben. Deswegen ist es nicht nötig, die Eskalation weiter anzuspitzen.«
»Wovon redest du?«
»Wenn dir wieder die Kontrolle über die Marionetten entgleitet, werden wir nicht nur Geld verlieren.«
»Blödsinn. Gar nichts werden wir verlieren.«
»Vater! Beende die Sache, solange es noch möglich ist.«
»Das Spiel endet, wenn ich es für richtig halte.«
»Aber wir sind doch …«
»Was?«, polterte Collister. Er hatte die Nase voll von dem Gejammer.
»Wir gehören inzwischen zu den weltweit reichsten Familien.«
»Was zur Hölle willst du mir damit sagen?«
»Wir brauchen nicht noch mehr Geld. Das Risiko eines nuklearen Krieges könnte alles vernichten.«
Fassungslos starrte Collister seinen Sohn an. »Du hast es anscheinend immer noch nicht kapiert. Es geht schon lange nicht mehr um Geld.«
»Worum geht es dann?«
»Um Macht, George. Und um ein Spiel. Ich will wissen, wie weit ich gehen kann.«
»Und wenn du das Spiel verlierst?«
»Ich habe noch nie verloren.«
»Es gibt immer ein erstes Mal.«
»Raus!«
*
Wie jeden Morgen fuhr Dieter ins Ingenieurbüro nach Düsseldorf. Elisabeth ging ihrem Halbtagsjob in der Bank nach. Doch zuerst brachte sie die Zwillinge in den Kindergarten.
«Mami, was ist Krieg?«
»Krieg ist ein Streit zwischen den Anführern von Völkern. Ihre Soldaten müssen sich hauen und sie tun einander weh.«
»Du hast uns gesagt, dass Streit etwas Dummes ist. Sind die Anführer dumm?«
»Ja, meine Lieben«, sie ging in die Hocke und drückte ihre Zwillinge an sich. »Die Anführer sind sogar ganz besonders dumm.«
Hoffentlich sahen die Kinder nicht ihre Tränen. Nach dem Abschied fuhr Elisabeth zur Bank. Spätestens dort erkannte sie, dass es mit dem normalen Leben vorbei war. Der Schalterraum war gefüllt mit Kunden. Sie alle wollten ihr Geld abheben. Die Sicherheitsbeamten hatten alle Hände voll zu tun, um Tumulte zu vermeiden. Wenn die Leute wüssten, dass die Bank in wenigen Tagen nicht mehr liquide war, würde es noch schlimmer kommen.
Mittags fuhr Elisabeth zum Einkaufen. Plötzlich musste sie eine Vollbremsung hinlegen. »Scheiße!«, schrie sie verärgert, als der Lastwagen ihr die Vorfahrt genommen hatte. Das Fahrzeug gehörte zu der Militärkolonne, die in die Stadt fuhr.
Wenige Minuten später war sie im Supermarkt. Eine ältere Dame packte die letzten Packungen mit Knäckebrot in ihren Einkaufswagen. Eine junge Frau schrie sie an.
»Geben Sie mir das Knäckebrot. Ich benötige es viel dringender für meine Kinder.«
»Das Brot brauche ich.«
»Du alte Hexe, stirbst ohnehin bald. Gib das Knäckebrot her!«
Schützend stellte sich die Oma vor ihren Einkaufswagen. »Wagen Sie es nicht, mich zu bestehlen, oder ich rufe die Polizei.«
Der Geschäftsführer des Supermarktes beendete den Streit. Beide Frauen bekamen jeweils die Hälfte der Packungen. Elisabeth zog ihr Handy aus der Tasche. »Dieter, hier ist die Hölle los. Soldaten sind in der Stadt, die Leute werden panisch.«
»Ich habe es auch schon mitbekommen. Am besten, du gehst gleich nach Hause. Ich mache früher Schluss und hole die Kinder ab.«
Die Zwillinge freuten sich, von Papa abgeholt zu werden. Auf dem Weg nach Hause sah Dieter Autoschlangen, die sich vor Tankstellen bildeten. Er schaute auf seine Tankanzeige. Halbvoll. An der nächsten Tankstelle standen nur wenige Autos. Dieter reihte sich ein. Als er den Zapfhahn einsteckte, hörte er eine aggressive Stimme.
»Hey! Gib mir deine Kohle.« Zuerst dachte Dieter, der Mann sprach mit jemand anderem. »Glotz nicht so blöd. Ja, dich meine ich.« Dieters Kehle zog sich zusammen. Der Typ war groß und wirkte sehr stark. Und er schien angetrunken zu sein.
»Scheren Sie sich zum Teufel, oder ich hole die Polizei.«
Der Mann lachte. »Die Polizei? Die hat nichts mehr zu melden. Her mit der Kohle, oder du kriegst eine aufs Maul.«
Die Zwillinge erkannten, dass ihr Vater in Bedrängnis kam. Sie fingen an, zu weinen.
»Lassen Sie mich in Ruhe!« Dieter schaute sich Hilfe suchend um.
»Die Kohle her!« Dieter wurde schmerzhaft an die Zapfsäule gedrückt.
»Ich … ich habe kaum Geld dabei. Nur Kreditkarte.«
»Papa! Was macht der böse Mann?«, rief eines der Kinder durch das offene Fenster.
»Ruhig, Kinder. Gleich ist alles wieder gut.«
»Du Arschloch! Gib mir endlich das Geld, sonst schlag’ ich dich zu Brei und die Rotzlöffel bekommen auch eine aufs Maul.«
»Hilfe!«, schrie Dieter. Die Faust knallte in sein Gesicht, Dieters Nase knirschte, ihm wurde schwindelig vor Schmerz. Er torkelte, spürte das warme Blut aus der Nase laufen.
Die Zwillinge schrien vor Angst. »Papa! Papa!«
Plötzlich kamen drei Soldaten um die Ecke gelaufen und der Schläger rannte davon.
»Geht es ihnen gut?«, fragte einer der Uniformierten.
»Ich … ich glaube schon.« Dieter fasste sich vorsichtig an die Nase. Sie schien nicht gebrochen zu sein.
Als sie zu Hause waren, erklärte er seiner entsetzten Frau den Vorfall. Die Kinder wurden nach dem Abendessen ins Bett gebracht und das Ehepaar setzte sich aufs Sofa.
»Die öffentliche Ordnung bricht zusammen«, sagte Elisabeth.
»Das Militär wird das nicht zulassen.«
»Dieter, vielleicht wird bald die erste Atombombe auf Deutschland fallen.«
Er schüttelte den Kopf. »Niemand wird so bescheuert sein und Nuklearwaffen einsetzen.«
»Wir dachten auch, dass niemand so bescheuert ist, einen Krieg anzufangen.«
»Du wirst sehen, es ist bald vorbei.«
»Nehmen wir an, die Russen feuern Raketen mit atomaren Sprengköpfen auf uns. Wie würden wir gewarnt werden?«, fragte Elisabeth.
»Ich habe es gestern im Radio gehört. Die Sirenen würden heulen und gleichzeitig auch die Kirchenglocken läuten.«
»Und was wird eine Atombombe anrichten?«
Dieter zuckte mit den Schultern. Er wollte ihr die Antwort nicht sagen. »Die verdammten Russen sind an allem schuld«, sagte er ausweichend.
»Wieso die Russen? Sie reagieren doch nur auf die Aggression der NATO.«
»Wie bitte? Meinst du etwa, die Russen haben recht?«
»Natürlich haben sie nicht recht. Aber würdest du dich nicht auch verteidigen, wenn du angegriffen wirst?«
»Wer greift hier wen an?«
»Die Russen fühlten sich bedroht. Sie haben es ja oft genug erwähnt.«
»Das Gelaber mit der Bedrohung ist Quatsch. Die Russen sind ein kriegerisches Volk und das Argument der Bedrohung ist nur ein Vorwand.«
»Ein kriegerisches Volk? Du hast anscheinend nicht in Geschichte aufgepasst. Die Russen wurden immer angegriffen. Denke nur an Napoleon oder an Hitler.«
Dieter spürte seine aufkochende Wut. »Und du hast in Geschichte zumindest teilweise gepennt. Schon immer gab es bei den Russen gewalttätige Revolutionen und politische Unruhen. Denke nur an den Diktator Stalin. Du glaubst anscheinend den säbelrasselnden Kommunisten mehr als den demokratisch gewählten Vertretern der freien Welt. Die Russen wollen diesen verdammten Krieg. Daran kann auch dein feministisches Wunschdenken nichts ändern.«
»Die Russen wollten keinen Krieg. Doch ich verstehe, wenn sie sich verteidigen wollen.«
»Ach so? Und die Besetzung der Krim war auch nur Verteidigung?«
»Die NATO hat doch das Gleiche schon viele Jahre früher mit Ex-Jugoslawien gemacht, und zwar mit Waffengewalt. In der Ukraine hingegen fand eine Abstimmung statt.«
»Blödsinn!« Dieters Stimme wurde lauter. »Wer will schon in ein kommunistisches Land eingebürgert werden? Die Russen sind verlogen und die Krim haben sie mit Waffengewalt besetzt.«
»Die Russen sind nicht so verlogen wie die momentane westliche Demokratie. Und die Angliederung der Krim an Russland erfolgte gewaltlos.«
»Gewaltlos? In der Ukraine tobte ein Bürgerkrieg. Meine Liebe, du leidest unter Realitätsverlust.«
»Sprich nicht so herablassend zu mir. Der Bürgerkrieg entstand erst, nachdem sich die USA mit Geld und sogenannten politischen Beratern eingemischt hatten und durch einen Putsch den russlandfreundlichen Präsidenten gegen einen US-Vasallen ausgetauscht haben. Die westliche Welt, allen voran die USA, hat schon in vielen Ländern unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe Kriege angezettelt.«
»Was für ein Stuss! Du bist ein Opfer der russischen Propaganda.«
»Waren die NATO-Manöver vor den Türen Russlands etwa Propaganda? Die Russen wurden von den Zugängen zu den Meeren abgeschnitten. Was glaubst du denn, warum dieses bescheuerte NATO-Manöver ‚Anakonda’ genannt wurde? Die westliche Würgeschlange war im Begriff, dem russischen Bär die Knochen zu brechen und der hat sich nun zur Wehr gesetzt.«
»Der russische Bär wehrt sich nicht, er greift an.« Dieters Stimme bebte vor Zorn. »Nur zur Erinnerung, deine Freunde haben zwei Jets der NATO abgeschossen.«
«Das sind nicht meine Freunde«, schrie Elisabeth zurück. »Und die Kampfjets wurden abgeschossen, weil sie in den russischen Luftraum eingeflogen sind. Wie willst du es denn nennen, wenn nicht Notwehr?«
»Notwehr?« Dieter schmiss die Hände ungläubig in die Luft. »Nur weil sich die Piloten verflogen haben, ist das doch kein Grund, gleich loszuballern.«
»Du spinnst ja! Wenn man sich so nahe an der feindlichen Grenze herumtreibt, verfliegt man sich nicht. Da steckt Absicht dahinter oder die Piloten waren besoffen. Außerdem hat die NATO gleich zurückgeschlagen und eine Kaserne bei Moskau in Schutt und Asche gelegt.«
»Mein Täubchen, die Russen verstehen nun mal nur die Sprache der Gewalt.«
»Mein Täubchen? Ich warne dich! Hör auf, so herablassend zu mir zu sprechen, sonst knalle ich dir eine.« Elisabeth sprang auf, schaute angriffslustig auf Dieter herunter.
»Sieh mal an, und dann sagst du bestimmt, du hast in Notwehr gehandelt. Deine Wahrnehmung von Angriff und Verteidigung ist genauso gestört wie die der Russen.«
Plötzlich standen die Zwillinge heulend auf der Treppe. Elisabeth eilte sofort zu ihren Kindern.
»Ihr streitet ja. Menschen, die streiten, sind doof. Seid ihr auch doof?«
»Ja, zumindest soeben waren wir doof«, sagte Elisabeth, die sich zu den Kindern gebeugt hatte. Dieter schämte sich. Er kam zu seiner Familie und nahm sie alle drei in die Arme.
»Es tut mir leid. Ich habe die Nerven verloren.«
»Kommt Kinder«, sagte Elisabeth, »ich bringe euch wieder ins Bett.«
Wenige Minuten später kam Elisabeth zurück. »Was passiert da mit uns? Wir haben uns noch nie so gestritten.«
Dieter schüttelte ratlos seinen Kopf. »Wir werden uns nicht unterkriegen lassen. Auch diese Schwierigkeiten bekommen wir in den Griff.«
»Schwierigkeiten? Das hier sind keine Schwierigkeiten. Der dritte Weltkrieg ist gerade dabei, sich zu entfalten und wir sind mittendrin.«
*
Gut gelaunt wachte Collister auf. Das Gefühl der Macht war berauschend und er hatte die Weltmacht. Während er am Frühstückstisch saß, liefen im TV die Nachrichten. Der Reporter sprach über einen nuklearen Krieg. So ein Quatsch! Doch um Gewissheit zu haben, griff Collister nach dem Telefon. Während es klingelte, schluckte er den letzten Bissen vom Rührei mit Schinken hinunter. Fred Miller hob ab, sein Experte für nukleare Konflikte.
»Würden die Russen einen atomaren Erstschlag gegen die westliche Welt durchführen?«
»Nein«, sagte Miller.
Na also, dachte Collister. »Dann besteht also keine nukleare Bedrohung?«
»Das hängt von der NATO ab. Das westliche Militär überschätzt sich. Es wird nicht in der Lage sein, Russland mit konventionellen Waffen in die Knie zu zwingen.«
»Sie meinen, die NATO könnte einen atomaren Erstschlag durchführen?« Collister konnte kaum glauben, was Miller da sagte.
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Wie würden Sie in dem Fall als Russe reagieren?«
»Ich würde eine Atombombe auf eine deutsche Stadt abwerfen.«
»Warum auf eine deutsche Stadt?«
»Die Deutschen sind der Wirtschaftsmotor von Europa.«
»Auf Berlin also?«
»Glaube ich nicht. Die Metropole liegt im Osten Deutschlands und damit näher an Moskau. Ich würde die Bombe auf Düsseldorf oder Köln werfen. 1.500 Kilometer entfernt von der russischen Grenze.«
»Wie groß würde der Schaden sein?«
»Die Rhein-Ruhr-Metropole ist sehr dicht besiedelt. Die Bombe würde ein paar Millionen Menschen direkt erwischen, eine weitere Million verletzen. Die Industrie wäre zerstört. Ich würde die Bombe werfen, wenn Ostwindlage herrscht, damit der radioaktive Fallout nach Frankreich treibt.«
»Der Wind kommt in Mitteleuropa aber meistens aus Westen.«
»Aber manchmal eben nicht.«
»Sind wir in Amerika gefährdet?«
»Natürlich. Der Bündnisfall wäre eingetreten und wir würden unsere Raketen nach Moskau schicken. Doch die Russen würden auch darauf sofort reagieren.«
»Was wäre das Resultat?«
»Kein Leben auf der Nordhalbkugel für die nächsten einhundert Jahre.«
Dem Puppenspieler wurde klar, dass ein verwundeter russischer Bär dazu in der Lage war, dieses Szenario wahr werden zu lassen. Doch schließlich hatte James Collister die Kontrolle über die Marionetten. Niemand würde einen atomaren Erstschlag durchführen. Das Prinzip ‚Abschreckung‘ funktionierte immer.
Nach dem Gespräch setzte sich Collister in sein Bürozimmer an den Schreibtisch, an die Schaltzentrale der Weltmacht. Es wurde Zeit für eine kleine Nachjustierung des Konfliktes, um die Gefahr eines nuklearen Albtraumes zu eliminieren. Auf dem Tisch lag eine Liste mit Namen hochrangiger Politiker und Militärs. Es waren die Marionetten, die für Collister den Krieg vorbereitet hatten. Diese Marionetten konnten den Krieg auch wieder beenden. Er griff zum Telefon und rief die Nummer neben dem ersten Namen an.
Gegen Mittag war die Liste abgearbeitet. Frustriert lehnte sich Collister in seinem Bürostuhl zurück. All sein diplomatisches Geschick, alle angebotenen Geldsummen, alles Bitten und Erpressen half nichts. Die Marionetten gehorchten ihrem Meister nicht mehr. Warum zur Hölle waren die Strippen durchtrennt?
Sein Sohn stürmte ins Zimmer.
»Vater! Die Amerikaner haben von den Aleuten U-Boote in russische Gewässer geschickt.«
Collister wurde kreidebleich. »Wann?«
»Vor drei Tagen.«
»Welches Ziel?«
»Der russische Marinestützpunkt in Petropawlowsk auf der sibirischen Halbinsel.«
Collister rief sofort beim NATO-Oberbefehlshaber an. »Schicken Sie auf der Stelle die U-Boote zurück.«
»Sie sind bereits auf dem Rückweg. Der Auftrag ist erfüllt.«
»Welcher Auftrag?«
»Petropawlowsk erlebte vor zehn Minuten das gleiche Schicksal wie Hiroshima vor über 70 Jahren.«
»Sie haben eine Atombombe abgefeuert?«
»Ganz genau. Wir haben den Russen gezeigt, dass mit uns nicht zu spaßen ist.«
Schweißtropfen bildeten sich auf Collisters Stirn. »Ich hatte klare Anweisung gegeben, keine nuklearen Waffen einzusetzen.«
»Herr Collister, es herrscht Krieg. Sie haben gar nichts mehr anzuweisen.«
»Und was glauben Sie, wird die Antwort aus dem Kreml sein.«
»Kapitulation natürlich. So wie die Japaner vor über 70 Jahren werden sich nun auch die Russen ergeben.«
Kraftlos legte James Collister das Telefon auf den Tisch.
»Besorge mir die Großwetterlage von Europa«, befahl er seinem Sohn.
Kurze Zeit später lag die Wettervorhersage für Europa auf seinem Tisch. Für die nächsten Tage war Ostwind angekündigt.
*
Dieter war auf dem Weg zur Arbeit. Das Radio funktionierte nicht. Nur noch Rauschen war zu hören. Wurde der Sender gestört? Zu gerne hätte er die letzten Neuigkeiten erfahren. Als er auf die Autobahn Richtung Düsseldorf auffuhr, rief Elisabeth an.
»Was gibt es Liebling? Habe ich etwas Zuhause vergessen?«
»Die Sirenen heulen«, sagte Elisabeth trocken.
»Bestimmt nur eine Übung der Feuerwehr, oder es brennt irgendwo.«
»Die Kirchenglocken läuten auch.«