Leseprobe ‚Herzschlag des Bösen‘ Teil 2

Prolog

Frankfurt, 27. Juni 2014.

Hanna drehte den Kopf zur Seite und schaute auf den Leuchtwecker: 02:46 Uhr. Sie war todmüde, doch der Gedankenterror hielt sie vom Schlaf ab. Obwohl die kühle Nachtluft durch das gekippte Fenster wehte und das dünne Bettlaken nicht einmal bis zur Hüfte hochgezogen war, schwitzte sie. Ihr Kopfkissen war inzwischen durchnässt von den Tränen. Alles fühlte sich feucht, heiß und klamm an.

Wie schnell sich doch Glück in Leid verwandeln konnte. Noch gestern Mittag hatte Hanna sehnsüchtig auf Jens gewartet, wollte zwei wunderbare Wochen mit ihm verbringen. Die Zweifel, die vor wenigen Tagen durch das Gespräch mit Kriminalhauptkommissar Schulz erwacht waren, hatte Hanna erfolgreich in Schach gehalten. Sie war sich sicher gewesen, dass sich alles klären würde.

Doch als Jens nach seinem Flug nicht zu ihr gekommen war, meldeten sich die Zweifel zurück. Dann kam die Angst, dann kam das schlimme Telefonat mit dem Flugbetriebsleiter. „Tut mir leid, Frau Engels“, hatte er mit emotionsloser Stimme gesagt. „Das SEK hat Kapitän Bachmann sofort nach der Landung verhaftet.“

Mit der Erkenntnis war der Schock gekommen.

Ich habe einen Frauenmörder geliebt. Wie konnte ich mich nur so blenden lassen?

Seufzend drehte Hanna sich auf die Seite und versuchte, endlich einzuschlafen. Doch je stärker sie sich bemühte, die schlimmen Ereignisse der letzten Tage zu ignorieren, umso mehr dachte sie daran. Es war so, als gerate ihr Verstand außer Kontrolle.

Oh Gott, bitte lass das alles nicht wahr sein.

Auch als sie in Nigeria eine Gefangene der Terroristen war, hatte sie Gott angefleht. Dabei glaubte sie nicht mal an ihn. Doch damals hatte es geholfen.

Plötzlich erwachte das beklemmende Gefühl einer Bedrohung, so wie damals unter dem Schutz der Soldaten in Nigeria kurz vor dem Überfall. Damals hatte das Gefühl sie nicht getäuscht.

Einbrecher? Hannas Sinne waren sofort geschärft.

Ihre Augen waren geöffnet, doch es war kaum was zu sehen in der Dunkelheit. Sie lag reglos da, bemühte sich leise zu atmen, spürte ihr stärker pumpendes Herz in der Brust. Ängstlich lauschte sie in die Nacht. Doch auch nach mehreren Minuten blieb alles ruhig, nur der schwache Wind und die üblichen Geräusche der Stadt waren zu hören. Hanna ließ das beklemmende Gefühl auf sich wirken und versuchte die Gefahr zu ergründen.

Nein, es war nicht so wie in Nigeria. Damals spürte sie eine unmittelbare Gefahr. Doch nun war es so, als ob irgendjemand an sie dachte und ihr Böses antun wollte. Kam die Bedrohung von Jens? Blödsinn. Er war ja eingesperrt.

Es musste Einbildung sein. Ihre Psyche spielte ihr bestimmt einen Streich, was ja nach all den schlimmen Erlebnissen nicht verwunderlich war. Zudem war sie schrecklich übermüdet und kaum noch zu klarem Denken fähig.

Nach kurzer Zeit ebbte das Bedrohungsgefühl ab.

Schlafen, ich will endlich schlafen. Nicht denken, nicht erinnern, einfach nur schlafen.

Hanna drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen und wie bei einer Meditation legte sie die Arme neben sich.

Um die zerstörerischen Gedanken zu vermeiden, konzentrierte sie sich auf ihren Herzschlag. Bumbum, bumbum, bumbum.

Es wirkte. Hannas Körper und Geist entspannten sich. Erinnerungen an Jens erwachten. Doch diesmal waren sie positiv und beruhigend.

Sein freundliches Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Sein verschmitztes und charmantes Lächeln. Ihre Intuition, auf die sie sich bisher immer verlassen konnte, sagte ihr, dass Jens kein Mörder war.

Hanna hatte sich täuschen lassen von der Verhaftung und den absurden Anschuldigungen. Von eindeutigen Indizien hatte die Kripo gesprochen. Doch im Mittelalter war es auch eindeutig, dass die Erde eine flache Scheibe war. Wer das infrage stellte, wurde der Ketzerei bezichtigt und hingerichtet. Es gab unzählige Beispiele von eindeutigen Indizien, die sich später als falsch herausstellten.

Verzeih mir, mein Liebling. Verzeih meine Zweifel.

Hatte sie die letzten Worte gesprochen? Hanna wusste es nicht, sie war zu müde zum Denken.

Vielleicht ist das alles ja nur ein schlimmer Albtraum.

Hannas Geist schwebte in den Schlaf.

Plötzlich lag Jens neben ihr. Sie spürte seine Wärme, roch seine Haut und hörte sogar seinen leisen Atem. Es war also doch alles nur ein Albtraum. Hanna war glücklich.

Schlaftrunken tasteten ihre Finger über das Bett neben sich. Sie wollte sich so gerne an ihren Liebsten kuscheln.

Doch das Bett war leer. Hanna erkannte die Täuschung. Der starke Wunsch nach seiner Nähe hatte ihr einen Streich gespielt. Sein leiser Atem war der säuselnde Wind vor dem offenen Fenster, seine Wärme war ihr eigener erhitzter Körper, sein Geruch war nur Einbildung.

Tränen sammelten sich wieder in ihren Augenwinkeln, kullerten zu beiden Seiten übers Gesicht auf das Kopfkissen.

Sie war wieder hellwach und registrierte verzweifelt die schreckliche Realität. Jens saß im Untersuchungsgefängnis und war angeklagt, ein bestialischer Mörder zu sein. Doch zumindest wusste Hanna nun, dass er unschuldig war.

Verzweiflung machte durstig. Ächzend stand Hanna auf. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Verzweiflung machte auch schwach.

Mit vorsichtigen Schritten schlich sie langsam in die Küche. Das Licht schaltete sie nicht an, es wäre zu grell gewesen. Durch das Fenster zur Straße hin drang der Schein der Straßenlaterne und erhellte die Küche.

Mit zittrigen Händen schenkte Hanna sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck. Ein Teil des Wassers schwappte über und tropfte auf den Boden. Als Hanna mit dem Glas zum Fenster ging, das zum Garten zeigte, spürte sie die Nässe unter ihren Fußsohlen. Für einen schrecklichen Moment hatte sie den Eindruck, über Blut zu laufen.

Am Fenster angekommen, erkannte sie in der Dunkelheit die sanft tanzenden Büsche im stärker werdenden Wind. Zweige kratzten manchmal am Fenster. Schon seit längerem hatte Hanna den verrückten Eindruck, dass die Büsche lebendig waren und sie immer dann, wenn es ihr schlecht ging, beobachteten. Am deutlichsten spürte sie die Bedrohung von dem Busch direkt vor ihrem Küchenfenster. Wenn sie ganz genau hinschaute, konnte sie ein übergroßes Gesicht erkennen. Eine Monsterfratze, die hässliche Grimassen schnitt und nun im Schattenspiel der schwach leuchtenden Straßenlaterne besonders bedrohlich wirkte.

Der Wind frischte auf, der Tanz der Büsche wurde lebhafter und die Fratze lachte Hanna hämisch aus. Auch das Geräusch des Windes änderte sich, wurde zu einer flüsternden und schadenfrohen Stimme.

Du hast einen Mörder geliebt. Du hast einen Mörder geliebt.

„Hab ich nicht!“, schrie Hanna entsetzt auf. Das Wasserglas fiel auf die Bodenfliesen und zerschepperte.

„Hab ich nicht!“, schrie sie nochmal zur Bekräftigung durch das Fenster. Sie sank auf die Knie, hockte auf den Fersen, verbarg ihr Gesicht in den Händen und heulte.

Als sie aufblickte, bekämpfte die Morgendämmerung bereits mit ersten Erfolgen die Nacht.

Hanna schniefte, wischte den Rotz von der Nase und stand auf. Ächzend und langsam, die Beine schmerzten. Erst jetzt erkannte sie, dass ihre Knie blutig waren. Sie wischte die kleinen Splitter vom zerbrochenen Wasserglas aus der Haut, lief zurück ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Noch immer blies der frische Wind.

Hanna kauerte sich eng zusammen, schloss die Augen.

Jens ist kein Frauenmörder. Niemals würde er einem anderen Menschen Leid zufügen. Ich weiß es. Verdammt noch mal, ich weiß es!

Je überzeugter sie von seiner Unschuld war, desto deutlicher spürte sie, wie die Kraft trotz der Müdigkeit wieder zurück in ihren Geist strömte und die hilflose Schwäche vertrieb. Es war ein gutes Gefühl, wieder klar denken zu können. Mit Sicherheit gab es eine logische Erklärung für die Anschuldigung. Wahrscheinlich würde die Kripo bald anrufen und sagen, dass alles ein Irrtum war. Erkennungsdienstliche Fehler, Verwechslung, Doppelgänger …

Oder wollte irgendjemand Jens reinlegen? Ihm den Mord in die Schuhe schieben? Hanna würde das verhindern.

Aus ihrer frisch gewonnen Stärke wurde Entschlossenheit. Noch wusste sie nicht, was zu tun war. Doch sie wusste, dass sie etwas tun würde.

Mit diesen Gedanken schlief sie ein.