Luxemburg, 19. Januar, 2016
Der Winter hatte das Land fest im Griff. Die Temperatur zeigte auf -5 Grad und eine weiße Schneedecke bedeckte den Boden. Wir waren froh, dem kalten Wetter bald zu entkommen.
„Mist! Der Zielflughafen macht nachts zu“, bemerkte Maxime und zeigte auf die Mitteilung in den Flugunterlagen.
„Wie viel Zeit bleibt uns?“, fragte Nathan.
Meine beiden Copiloten und ich standen am Tresen bei Dispatch.
Wir überprüften gerade die Unterlagen für den Flug von Luxembourg nach Campinas in der Nähe von San Paulo. Dort war Sommer, dort war es warm.
Ich schaute auf den Flugplan: 11 Stunden und 18 Minuten Flugzeit. „Wenn wir pünktlich loskommen, dann landen wir ne knappe Stunde vor der Schließung des Flughafens.“
Maxime zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Ich verstand seinen Blick. Über 100 Tonnen Fracht wurden gerade auf das Flugzeug geladen. Uns allen war klar, dass es dabei schon mal Verzögerungen geben konnte.
„Kommt“, sagte ich mit einem Achselzucken. „Lasst uns keine Zeit hier verlieren.“
Zwanzig Minuten später stiegen wir die steile Treppe zum Flugzeug hoch. Es herrschte geschäftiges Treiben. Sämtliche Beladetüren waren offen und die Paletten, die aus dem Frachtzentrum direkt zum Flugzeug gebracht wurden, verschwand im Rumpf der Boeing 747. Die Nase des Frachtflugzeuges war nach oben aufgeklappt und der Jumbo sah aus wie ein Riesenwal, der sein Maul weit aufgerissen hatte. Mit dem ‚Highloader’ wurden die Paletten in die Höhe gehoben und durch dieses ‚Maul’ in den Bauch geschoben.
„Vierzig Minuten“, sagte der Lademeister, als ich ihn fragte, wann er und sein Team mit dem Beladen fertig wären. Das bedeutete eine leichte Verspätung. Noch war alles im grünen Bereich. Als das Beladen fertig war, machten wir unsere letzten Vorbereitungen für den Flug. Plötzlich zeigte Nathan, der als Copilot das Flugzeug nach Campinas fliegen sollte, durch das Fenster nach draußen.
„Schnee.“
Gemächlich tänzelten Schneeflocken durch die Luft. Es war schön anzuschauen, bescherte uns aber ein neues Problem. Das Flugzeug musste nun enteist werden.
Es war wie mit dem Einnehmen von Medizin. Bitter, aber nötig. Die Zeit lief uns davon, doch die Männer auf den beiden Enteisungstrucks arbeiteten zügig.
Mit insgesamt 40 Minuten Verspätung konnten wir abheben und wir würden
10 Minuten vor der Schließung des Flughafens in Campinas landen.
Zehneinhalb Stunden später befanden wir uns im Sinkflug auf Campinas. Der Wind am Boden hatte aufgefrischt und wehte in Böen bis zu 30 Knoten, also 55 kmh, von vorne auf die Runway. Der Flughafen von Campinas erinnerte an einen Flugzeugträger. An beiden Enden des Runway fiel das Gelände steil ab. Da der Wind nun stark von vorne kam, mussten wir mit kräftigen Abwinden kurz vor der Landung rechnen. Wir besprachen die Situation und bereiteten uns auf ein mögliches Durchstartmanöver vor. Hier in Campinas gab es aber noch ein anderes Problem. Irgendwelche Spinner leuchteten oft vom Boden aus mit Laserbeamern die landenden Flugzeuge an. Ein Phänomen, das es schon seit Jahren gab. Nur in Tripoli hatte ich Ähnliches erlebt. Es war ratsam, nicht in so ein Laserlicht zu schauen. Wir waren gewarnt und würden unsere Blicke im Cockpit halten, sollten wir ‚angelasert’ werden. Doch diesmal hatten wir Glück. Kein ‚Spinner’ leuchtete uns an. Auch der Wind hatte kurz vor der Landung nachgelassen und Nathan konnte problemlos den Jumbo landen.
Eine Stunde später waren wir im Hotel. Zu einem ‚Absacker’ hatte keiner mehr Lust. Wir waren zu müde.
Am nächsten Tag verabschiedete sich Nathan. Er flog als Passagier nach Miami. Dort würde er mit einem anderen Kapitän eines unserer Flugzeuge zurück nach Europa fliegen.
Mein Aufenthalt in Campinas.
Meine Schuhe hatten Pflege dringen nötig. Obwohl der Schuhputzer kein Wort Englisch sprach, konnten wir eine nette ‚Unterhaltung‘ führen.
Am Abend wollte ich mich mit Maxime zum Abendessen treffen, doch er verpennte unsere Verabredung. Also ging ich alleine und kurze Zeit später saß ich vor einem Restaurant in der lauen Abendluft.
Auf der Speisekarte suchte ich lang nach einem vegetarischen Gericht. Nach mehreren Minuten fand ich eine ‚Pizza vegetariana’. In Brasilien scheint vegetarisches Essen nicht sehr populär zu sein.
Sie schmeckte, die vegetarische Pizza. Aber sie war viel zu groß. Mit Mühe schaffte ich die Hälfte.
Auf dem freien Platz vor dem Restaurant fiel mir ein Obdachloser auf. Er rollte seine Decke aus und legte sich zum Schlafen hin. Mir kam eine gute Idee für meine restliche Pizza. Mit beiden Händen signalisierte ich dem Kellner – die Bewegunen erinnerten an das Streicheln eines Balles – dass er die restliche Pizza für mich einpacken sollte. Der Kellner verstand und kurze Zeit später lief ich mit dem Pizza-Paket auf den Obdachlosen zu.
Freudestrahlend schälte er sich aus seiner dreckigen Decke. Noch im Liegen riss er die Verpackung auf und machte sich über das Essen her.
Auf dem Weg zum Hotel sah ich einen weiteren Obdachlosen. In seiner Decke eingemummt, kauerte er vor der heruntergelassenen Metalljalousie eines Geschäftes. Die Obdachlosen gehörten hier zum Straßenbild.
Am nächsten Tag ging ich am frühen Nachmittag zu einem kleinen Snack in die ‚City Bar’. Ein kleines Restaurant in der Nähe unseres Hotels. Mir sind die Polizisten mit ihren schusssicheren Westen aufgefallen. Inzwischen gehört das anscheinend zum Straßenbild.
Am nächsten Morgen um 3 Uhr Wake-up für den nächsten Flug. Zuerst nach Curitiba und dann quer über den Kontinent nach Latacunga in Ecuador. Als wir in Campinas auf die Runway rollten, hatte die Morgendämmerung bereits die Nacht besiegt. Der erste Flug dauerte nur 30 Minuten. In Curitiba wurde die Fracht schnell umgeladen und kurze Zeit später waren wir wieder in der Luft. Für sechs Stunden führte uns die Strecke nach Nordwesten auf die andere Seite von Südamerika.
Wir flogen in ein Gebiet, in dem die Erde noch in ihrer spätpubertierenden Phase ist. Erdbeben und Vulkanausbrüche gehören hier zum Alltag. Für uns Piloten besteht die Herausforderung nicht nur darin, im Sinkflug auf die hohen Berg zu achten, sondern auch auf die Ascheschwaden, die oft in den Wolken versteckt sind. In keines von beidem sollten wir hineinfliegen. Die Folgen wären … fatal.
Latacunga liegt auf 3000 Meter Höhe in einem Tal, eingebettet von Bergen, die bis über 6000 Meter hochreichen. Im letzten Jahr war der Cotopaxi – einer der gefährlichsten Vulkane der Welt – wieder aktiv. Der Vulkan rülpste und stieß auf, Aschewolken wurden bis zu 12 Kilometer in die Höhe geschleudert.
Zu dieser Zeit war auch ich in Ecuador und im Hotel in Quito konnte ich die bebende Erde spüren.
Der Cotopaxi lässt alle paar Jahre Dampf, Lava und Asche ab, doch letztes Jahr staute sich der Druck so stark, dass Schlimmes zu befürchten war. Der Präsident von Ecuador verhängte den Ausnahmezustand. Dörfer wurden evakuiert, Schulkinder trainierten Notfallübungen, viele Menschen versorgten sich mit Atemmasken und Wasservorräten. Immer wieder erschütterten größere und kleinere Erdbeben das Land.
Doch nicht nur die Lavaströme und die Aschewolken gefährden bei einem Ausbruch die Bevölkerung. Dicke Gletscher umlagern die Bergspitze und die Hitze der Lava lässt das Eis schmelzen. Die dadurch entstehenden Schlammlawinen fließen unaufhaltsam bis über 100 Kilometer in das Tal. 1877 erreichte so eine Schlammlawine Latacunga und begrub die Stadt unter sich.
Als wir nun Latacunga anflogen, bestand keine Gefahr. Seit einigen Monaten hatte sich Cotopaxi wieder beruhigt. Das Leben hatte sich normalisiert. Der Nationalpark um den Berg wurde vor einigen Tagen wieder geöffnet und nur eine kleine Aschewolke war über dem Gipfel sichtbar. Wir landeten bei strahlendem Sonnenschein.
Hier in Latacunga soll das Flugzeug mit Blumen vollgeladen werden. Saftige Rosen mit fetten Blüten für Europa.
Nachdem die Triebwerke abgestellt waren, kam die Polizei mit einem
Drogenhund an Bord. Neugierig schaute der Labrador ins Cockpit.
Der Drogenhandel ist ein großes Problem in diesem Land, und der Transport von Rosen scheint verführerische Möglichkeiten zum Schmuggel zu bieten. Der schwanzwedelnde Hund inspizierte das Cockpit, anschließend durften wir das Flugzeug verlassen.
Nun erwartete uns eine Autofahrt von knapp eineinhalb Stunden nach Quito.
Zwei Tage verbrachten Maxime und ich in der Hauptstadt von Ecuador, dann hatten wir eine weitere »Sightseeing-tour« auf den Weg zurück nach Latacunga.
Als wir am Flugzeug ankamen, erwartete uns bereits der Polizist mit seinem Spürhund. Unsere Koffer wurden beschnüffelt und dann durften wir an Bord.
Im Steigflug verabschiedeten wir uns von dem Vulkan, der die Gegend so fest im Griff hatte. Zärtlich atmete der Cotopaxi dünnen Rauch.
Auch diesmal hatten wir zwei Flüge vor uns. Zuerst nach Bogota. Dort wurden weitere Paletten mit Rosen aufgeladen. Mit der vollen Ladung konnte nicht genug Sprit für den Direktflug nach Amsterdam getankt werden. Das Flugzeug wäre zu schwer gewesen. Deswegen wurde ein weiterer Stopp in der Karibik eingeplant.
Kurz vor der Landung des Zweistundenfluges zog ein Regenschauer über den Flughafen von Aquadilla, einer kleinen Stadt in Puerto Rico.
Kurz nach der Landung in Aquadilla. Die regennasse Bahn reflektiert das Licht der untergehenden Sonne
Die Fahrt ins Hotel, das direkt am Strand lag, dauerte nur wenige Minuten. Da ich gerne im Meer schwimme, war dieser Aufenthalt für mich besonders reizvoll. Puerto Rico! Eine wunderbare amerikanische Insel. Der Großteil der Bevölkerung hat südamerikanische Wurzeln. Die Menschen sind entspannt, das Wetter ist karibisch, die Kriminalität ist gering. Hier fühlt man sich wohl. Wir hatten wieder zwei Tage frei. Während in Mitteleuropa winterliches Schmuddelwetter herrschte, konnten wir den karibischen Flair genießen.
Dann wurde es Zeit für den Flug nach Hause. Zuerst nach Amsterdam, dann das letzte kurze Stück zurück nach Luxemburg.
Ein schöner Trip, den ich gerne wiederholen würde. Besonders, wenn auf der Nordhalbkugel der Winter regiert.